Identität war einmal etwas Gegebenes. Sie ergab sich aus Herkunft, Beruf, Familie, Glauben. Man wusste, wo man hingehörte, und konnte sich daran reiben oder davon lösen. Heute ist Identität zur Aufgabe geworden, ein Projekt ohne festen Boden. Wer bin ich, wenn alles, was mich definiert hat, in Bewegung geraten ist?
Die Antwort darauf fällt zunehmend schwer. Leistung, die lange als Kompass diente, wird hinterfragt (vgl. Beitrag 2). Herkunft verliert in globalisierten Gesellschaften an Bedeutung. Zugehörigkeiten zerfallen oder werden beliebig wählbar. Übrig bleibt das Individuum: Frei, aber orientierungslos.
Das "Ich" als Baustelle
Zygmunt Bauman nannte unsere Gegenwart „flüssig“ – nichts bleibt stabil, alles muss ständig neu verhandelt werden. Auch das Selbst. Identität ist kein Fundament mehr, sondern eine Baustelle in permanenter Sanierung. Wer scheitert, hat nicht zu wenig erreicht, sondern „falsch gebaut“.
Das erzeugt Druck. Denn wer sich selbst ständig neu erfinden muss, lebt im Modus des Vorläufigen. Kein Abschluss, kein Ankommen. Die Lebensläufe werden brüchig, Patchwork-Biografien ersetzen lineare Karrieren. In der Wirtschaft heißt das „Agilität“, im persönlichen Leben oft schlicht: Erschöpfung.
Wenn Leistung nicht mehr trägt
Lange Zeit war berufliche Leistung der stabile Kern moderner Identität. Arbeit schuf Selbstwert und gesellschaftliche Einordnung. Doch in einer Welt, in der Arbeitsverhältnisse befristet, Märkte volatil und Unternehmen austauschbar geworden sind, verliert Leistung ihre identitätsstiftende Kraft.
Besonders sichtbar wird das in Krisen. Bei Umstrukturierungen, Insolvenzen oder der beruflichen Neuorientierung. Wenn das, was man kann, plötzlich nicht mehr gebraucht wird, entsteht ein Vakuum. Menschen geraten nicht nur wirtschaftlich, sondern auch existentiell in die Krise. Die Frage lautet dann nicht mehr: „Was arbeite ich?“, sondern: „Was bin ich ohne meine Arbeit?“
Hier zeigt sich, wie eng Identität und Systemlogik miteinander verknüpft sind. Wer sich ausschließlich über Funktion definiert, verliert sich mit dem Verlust der Funktion.
Philosophie der Selbstwerdung
Der Psychoanalytiker Erik Erikson verstand Identität als ein Gleichgewicht, das sich ständig neu justiert. Jeder Mensch braucht etwas, das bleibt, und zugleich die Freiheit, sich zu verändern. Wenn einer der beiden Pole überwiegt, gerät das Selbst aus der Balance: Wer sich nur festhält, erstarrt. Wer sich nur verändert, verliert sich.
Hannah Arendt verstand Identität als etwas, das sich im Handeln zeigt: im Dialog mit der Welt, nicht im Rückzug ins Private. Wir werden jemand, indem wir sichtbar werden, Verantwortung übernehmen, Spuren hinterlassen.
Doch genau das fällt heute schwer. Die Überforderung durch permanente Vergleichbarkeit führt dazu, dass viele Menschen sich lieber „unsichtbar“ machen: keine klare Meinung, kein Risiko, keine Reibung. Das Ergebnis ist paradoxerweise nicht Sicherheit, sondern Selbstverlust.
Die Ökonomie der Selbstinzenierung
Gleichzeitig erleben wir einen Boom der Selbstdarstellung. In sozialen Medien wird Identität kuratiert wie ein Markenimage. „Sei du selbst“, heißt es... aber nur, solange dieses Selbst Zustimmung findet. Authentizität wird zum Produkt, Individualität zur Inszenierung.
So entsteht eine doppelte Krise: das Über-Ich der Selbstoptimierung trifft auf die Leere eines Ichs ohne inneren Maßstab. Der Mensch verliert die Fähigkeit, sich zu definieren, ohne sich zugleich zu verkaufen.
Identität im Umbruch
Gerade im beruflichen Kontext zeigt sich, wie eng Identität und Funktion miteinander verflochten sind. Wenn dass, was man tut, plötzlich nicht mehr gebraucht wird, verlieren Menschen nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern oft auch den Sinn, den diese Tätigkeit gestiftet hat.
In solchen Phasen kann Kommunikation Brücken schlagen. Nicht als Strategie, sondern als menschlicher Prozess. Identität entsteht dort neu, wo Menschen wieder Worte finden für das, was bleibt. Auch wenn vertraute Strukturen wegbrechen. Denn wer sich auf ein Gespräch einlässt, kann auch Halt im Wandel finden.
Fazit
Identität ist kein Zustand, der in Stein gemeißelt ist, sondern ein Prozess, der Beziehung braucht. Der sich wiederum in Beziehung setzt zu Mitmenschen, zu Werten und zur Welt.
In einer Gesellschaft, die Geschwindigkeit mit Sinn verwechselt, können sich Identitäts- und Sinnsuche schnell in einem Strom der Beliebigkeit und Austauschbarkeit verlieren.
Die Aufgabe unserer Zeit: Statt vorschnell Etiketten zu kleben, lieber den Dialog suchen. Und zwar den Dialog zwischen Selbst und Welt, zwischen Stabilität und Wandel und Tun und Sein.
Wer sich diesem Prozess stellt, könnte entdecken, dass sein Ich nicht verloren geht, sondern nur seine Form verändert.
Wo Sprache wieder tastend werden darf – nicht optimierend, nicht verkaufend –, kann Identität aufatmen.
Quellen:
Arendt, Hannah. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper, 2020.
Bauman, Zygmunt. Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003.
Erikson, Erik H. Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980.
Han, Byung-Chul. Transparenzgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz, 2012.
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