Wer nichts mehr aushält, hält alles für einen Angriff

Veröffentlicht am 10. September 2025 um 09:15

Wir leben in einer Gesellschaft, in der schon ein schiefer Blick genügt, um als „toxisch“ zu gelten. Kritik wird mit Gewalt verwechselt, Meinungsverschiedenheit mit Diskriminierung. Wer heute widerspricht, riskiert, sofort als Täter markiert zu werden. Es wirkt, als hätten wir uns so sehr an Komfort und Bestätigung gewöhnt, dass jede Irritation zur Kränkung wird. Wer nichts mehr aushält, hält eben alles für einen Angriff.

Vom Dialog zur Defensive

Früher war Widerspruch ein Bestandteil des Gesprächs. Ein Gedanke wurde vorgetragen, kritisiert, verbessert oder verworfen; so entstand Fortschritt. Heute beobachten wir eine Verschiebung: Jede Kritik wird als Infragestellung der Person empfunden. Das Argument wird nicht mehr auf seine Logik geprüft, sondern auf seine emotionale Wirkung. Statt „Stimmt das?“ lautet die Frage: „Wie fühlt es sich für mich an?“

Die Folge ist eine Gesprächskultur, die defensiv wird. Nicht mehr die Sache selbst steht im Zentrum, sondern die Befindlichkeit. Wer widerspricht, greift das Selbstwertgefühl an – und löst Gegenwehr aus, die oft heftiger ausfällt, als es der ursprüngliche Anlass überhaupt vermuten ließ.

Der Verlust von Resilienz

Warum ist das so? Ein Erklärungsansatz liegt in unserer sinkenden Frustrationstoleranz. Jahrzehnte des Wohlstands haben viele Menschen an Bequemlichkeit gewöhnt. Härten, die früher Alltag waren, werden heute als Zumutung erlebt. Kritik, die einmal als normal galt, wirkt nun wie ein Schlag ins Gesicht.

Die Psychologie spricht hier von Resilienz, d.h. von der Fähigkeit, Rückschläge, Kritik und Unsicherheit zu verkraften. Doch Resilienz entsteht nicht durch Schonung, sondern durch Konfrontation. Wer nie Widerspruch erlebt, kann ihn nicht aushalten. Eine Gesellschaft, die jede Irritation glättet, produziert Menschen, die an kleinsten Unebenheiten scheitern.

Philosophische Perspektiven

Schon Immanuel Kant forderte in seiner berühmten Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Unmündigkeit bedeutet hier nicht mangelnde Intelligenz, sondern die Weigerung, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Oft, weil es bequemer ist, sich nicht mit Widerstand auseinanderzusetzen.

John Stuart Mill argumentierte in On Liberty, dass auch unbequeme Meinungen gehört werden müssen. Nicht weil sie immer recht hätten, sondern weil sie die Mehrheitsmeinung prüfen und schärfen. Wer andere Stimmen unterdrückt, schwächt die eigene Überzeugung.

Heute scheint diese Einsicht vergessen. Statt Auseinandersetzung herrscht der Wunsch nach Schutz. Triggerwarnungen, Cancel Culture und Safe Spaces haben ihren Sinn, wenn es um reale Traumata geht – doch sie werden problematisch, wenn sie zur generellen Erwartung werden, vor allem Unangenehmen bewahrt zu bleiben.

Aktuelle Beispiele

  • In der Bildung: Schülerinnen und Schüler sollen nicht mehr sitzenbleiben, Noten gelten als diskriminierend, Kritik wird als Gefahr für die Psyche betrachtet. Doch ohne Reibung entsteht kein Wachstum.
  • In den Medien: Debatten verengen sich auf moralische Schwarz-Weiß-Muster. Wer widerspricht, riskiert, sofort stigmatisiert zu werden. Nicht wegen seiner Argumente, sondern wegen seiner vermeintlichen Haltung.
  • In sozialen Netzwerken: Empörung ist die Währung. Jeder Satz, aus dem sich ein Angriff konstruieren lässt, wird zur Vorlage für Shitstorms. Der Algorithmus belohnt die Sensibilität für vermeintliche Verletzungen, nicht die Bereitschaft zur Differenzierung.

Vom Schutz zur Erstarrung

Natürlich ist es wichtig, sensibel mit Sprache und Machtverhältnissen umzugehen. Aber wenn jede Meinungsäußerung potenziell als Angriff gilt, erstarrt die Gesellschaft. Innovation, Kritik und Fortschritt leben vom Widerspruch. Wer das nicht mehr aushält, beraubt sich selbst der Möglichkeit, besser zu werden.

Eine Gesellschaft, die keine Zumutungen mehr erträgt, wird fragil. Sie mag tolerant erscheinen, ist aber in Wahrheit verletzlich bis zur Selbstlähmung.

Fazit

Kritik ist unbequem, aber notwendig. Wer sie nicht aushält, verliert nicht nur den Diskurs, sondern auch die Chance auf Entwicklung. Wenn jede Abweichung vom eigenen Standpunkt als Angriff empfunden wird, bleibt nur noch ein Echo der eigenen Stimme.

Stattdessen sollten wir uns wieder an eine alte Tugend erinnern: Gelassenheit im Angesicht des Widerspruchs. Denn nur wer aushält, kann wachsen. Und nur wer Kritik erträgt, hat die Freiheit, selbst zu denken.

 

Quellen:

Kant, Immanuel. „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ In Werke in sechs Bänden, Bd. VI, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, 53–61. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998.

Mill, John Stuart. Über die Freiheit. Stuttgart: Reclam, 2016. (Erstausgabe 1859)

Rutter, Michael. Resilience: Some Conceptual Considerations. London: JCPP, 1987.

 

 

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