Orientierung ohne Richtung
Früher war der Wertekompass klar. Oder zumindest klarer. Über Jahrhunderte vermittelte die Kirche die Maßstäbe dafür, was richtig und falsch sei. Gesellschaftliche Zwänge und moralische Leitplanken bestimmten das Verhalten. Sie gaben Halt, aber auch Enge.
Als sich die Gesellschaft von diesen religiösen Prägungen befreite, hätte die Chance bestanden, an die Stelle dogmatischer Normen ein neues Fundament zu setzen: Eine säkulare Ethik, die Verantwortung und Freiheit in Balance bringt. Doch das Pendel schlug zur Gegenseite aus. Statt Orientierung entstand oft nur die Ablehnung des Alten.
Die anti-autoritäre Bewegung etwa war weniger ein konstruktives Konzept als eine bewusste Negation: keine Zwänge, keine Strafen, keine Regeln. Was früher Enge war, wurde nun zum Fehlen jeder Form von Grenze.
Ersatz durch Leistung
Die entstandene Lücke wurde nicht durch neue Werte gefüllt, sondern durch Ersatzbefriedigungen. Für viele Generationen rückte die berufliche Leistung ins Zentrum: Erfolg im Außen als Beweis des eigenen Wertes. Wer arbeitete, Karriere machte und Statussymbole anhäufte, konnte die Leere füllen. Oder zumindest überdecken.
Doch auch hier war der Sinn nicht in der Leistung selbst verankert, sondern in der sozialen Anerkennung, die sie versprach. Das „Was“ zählte weniger als das „Wie viel“: Einkommen, Titel, Besitz. Selbst Bewegungen, die auf den ersten Blick nach innen gerichtet waren, erwiesen sich bei näherer Betrachtung als nüchtern kalkulierte und auf Gewinn getrimmte Geschäftsmodelle. Die Baghwan-Bewegung der 1970er Jahre oder die heutige Coaching-Industrie zeigen, wie schnell spirituelle und esoterische Strömungen in ökonomische Produkte verwandelt werden und eine gut geölte Marketingmaschinerie die Gelder der (Sinn-)Suchenden in die Taschen der jeweiligen Experten und Gurus spült. Ein Schelm, der da böses denkt oder sich sogar ein wenig an den mittelalterlichen Ablasshandel der Kirchen erinnert fühlt.
Leistung unter Verdacht
Heute zeigt sich ein neues Phänomen: Das Leistungsprinzip selbst gerät unter Verdacht. Sitzenbleiben gilt als Demütigung, Noten als überholt, Kritik als Diskriminierung. Wettbewerb wird zunehmend abgelehnt, als sei er per se unfair. Leistung wird nicht mehr als Ausdruck von Entfaltung gesehen, sondern als Zumutung.
Damit wird aber nicht das Problem gelöst, dass Leistung lange Zeit als Ersatzreligion diente, sondern ein neuer Mangel erzeugt. Denn wenn Leistung keinen Wert mehr hat, bleibt nur noch das Konsumieren. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, die zwar Wohlstand genießt, aber den inneren Kompass verloren hat.
Philosophische Perspektiven
Philosophisch betrachtet ist dieser Wandel nicht überraschend. Hannah Arendt unterschied zwischen Arbeit, Herstellen und Handeln. Arbeiten sichert das Überleben, Herstellen bringt Dinge hervor, Handeln eröffnet Sinn durch gemeinschaftliche Interaktion und Übernahme von Verantwortung. Unsere Gegenwart jedoch verharrt zwischen Arbeit und Herstellen: Leistung, Produktivität, Output, während das Handeln im Sinne eines orientierenden Miteinanders verkümmert.
Friedrich Nietzsche sprach von der „Umwertung der Werte“. Doch statt neuer Werte ist oft nur die Leere geblieben: eine Verneinung ohne Ersatz. Wo früher Religion und Moral Orientierung gaben, bleibt heute ein Vakuum, das weder durch Leistung noch durch Konsum gefüllt wird.
Max Weber wies in seiner Analyse der protestantischen Ethik darauf hin, wie eng Leistungsbereitschaft und religiöse Sinngebung einst miteinander verbunden waren. Mit dem Verlust dieser Verbindung blieb nur das äußere Streben übrig: ein „stahlhartes Gehäuse“ der Rationalität ohne Seele.
Die Folgen zeigen sich in vielen Bereichen:
Arbeitswelt: Quiet Quitting und Burnout sind zwei Seiten derselben Medaille: einerseits Rückzug, weil Sinn fehlt, andererseits Überlastung, weil Leistung als einziger Maßstab bleibt.
Bildung: Debatten über Noten, Sitzenbleiben oder Leistungsnachweise spiegeln die Ratlosigkeit wider, wie man junge Menschen fordern soll, ohne sie zu „überfordern“.
Gesellschaft: Kritikfähigkeit nimmt ab. Wer kritisiert wird, fühlt sich nicht korrigiert, sondern verletzt. Damit verschwinden Maßstäbe für Verbesserung.
Fazit
Der Verlust des Wertekompasses ist kein plötzliches Ereignis, sondern eine langsame Verschiebung. Von religiöser Strenge über antiautoritäre Ablehnung bis hin zur Vergötzung der Leistung. Und nun deren Delegitimierung. Doch solange keine neuen Werte Orientierung bieten, bleibt die Gesellschaft in einer seltsamen Schwebe: Wohlstand ohne Richtung, Freiheit ohne Ziel.
Leistung allein kann keinen Sinn erzeugen. Aber ohne Werte verliert sie jede Legitimation. Der Weg aus diesem Dilemma beginnt nicht mit der Abschaffung der Leistung, sondern mit der Frage, wofür sie überhaupt stehen soll.
Quellen:
Arendt, Hannah. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper, 2020. (Original: The Human Condition, 1958)
Nietzsche, Friedrich. Zur Genealogie der Moral. Stuttgart: Reclam, 1999. (Erstausgabe 1887)
Weber, Max. Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus. München: C.H. Beck, 2016. (Erstausgabe 1904/05)
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