Das Statusdenken hat sich verändert. Früher zeigten Häuser, Autos und Uhren, wer es „geschafft“ hatte. Heute kann man mit einem Elektroauto oder einem bewusst schlichten Tiny House denselben sozialen Code senden: Ich bin erfolgreich – oder: Ich bin moralisch überlegen. Besitz allein reicht nicht mehr, um Zugehörigkeit zu signalisieren. Was zählt, ist Haltung. Oder das, was dafür gehalten wird.
Die Opferrolle als moralisches Kapital
Parallel dazu entsteht eine andere Währung: Betroffenheit. Wer sich als Opfer gesellschaftlicher Umstände inszeniert, gewinnt Aufmerksamkeit, Empathie und moralische Unantastbarkeit. Die Opferrolle wird zum Schutzschild und zum Statussymbol zugleich. Sie verspricht Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft der „Verletzten“, die moralisch über den „Tätergruppen“ steht.
Das bedeutet nicht, dass es kein echtes Leid gibt. Aber wo Leiden zur Eintrittskarte in den öffentlichen Diskurs wird, verliert es seine Tiefe. Betroffenheit wird performativ: Sie ersetzt Reflexion durch Emotion und erzeugt moralische Hierarchien, die sich nicht mehr hinterfragen lassen.
Von der Leistung zur Selbstinszenierung
Die klassische Statuslogik: Erfolg durch Arbeit, Aufstieg durch Leistung – hat in vielen Milieus an Glaubwürdigkeit verloren. Nicht, weil Leistung unwichtig wäre, sondern weil sie ihre moralische Legitimation verloren hat (vgl. Beitrag 2 dieser Reihe). An ihre Stelle tritt eine neue Form des sozialen Wettbewerbs: Sichtbarkeit.
Sichtbar ist, wer gehört wird. Gesehen wird, wer Emotionen auslöst. Der neue Status beruht nicht mehr auf dem, was jemand tut, sondern auf dem, was jemand fühlt – oder zumindest zeigt.
Soziale Medien verstärken diesen Mechanismus: Was zählt, ist nicht mehr das Argument, sondern der Aufreger. Das vermeintliche „Ich gegen die Welt“ ist oft kein Ausdruck von Haltung mehr, sondern ein kalkulierter Affekt. Es geht nicht um Einspruch, sondern um Aufmerksamkeit. Nicht um Meinung, sondern um Reichweite.
Die Philosophie des Mangels
Nietzsche sprach von der „Umwertung aller Werte“: Von dem Punkt, an dem Schwäche nicht mehr als zu überwindender Zustand, sondern als moralische Überlegenheit gilt. Was einst als Ansporn galt, wird nun zur Identität erhoben. Statt die Begrenztheit des Lebens als Herausforderung zu begreifen, wird sie zum Zentrum des Selbstbildes.
Pierre Bourdieu würde sagen: Das Feld sozialer Distinktion hat sich verschoben. Statt durch Kapital (ökonomisch, kulturell oder sozial) unterscheiden wir uns nun durch unsere Haltung zu Ungerechtigkeit. Wer am lautesten auf Missstände zeigt, steht moralisch am höchsten.
Beispiele aus Gegenwart und Alltag
- In den sozialen Medien: Hashtags, die Betroffenheit signalisieren, generieren Reichweite. Selbst Privilegierte inszenieren sich als Opfer struktureller Zwänge, um Authentizität zu gewinnen.
- In der Politik: Die Pose des Außenseiters hat Konjunktur. Ob konservativ, progressiv oder liberal: Fast jede Bewegung reklamiert heute, für „die Vergessenen“ oder „die Normalen“ zu sprechen. Das ist selten Ausdruck wirklicher Marginalität, sondern häufig eine rhetorische Strategie: Nähe behaupten, wo Distanz gewachsen ist.
- Im Alltag: Wer Kritik erfährt, reagiert nicht mit Reflexion, sondern mit Verletztheit (siehe Beitrag 3).
So entsteht eine Gesellschaft, in der das Leiden performt, aber selten verstanden wird.
Zwischen Empathie und Eitelkeit
Empathie ist eine kulturelle Errungenschaft. Doch wenn sie zur Währung wird, verliert sie ihren Sinn. Wer Empathie einfordert, statt sie zu leben, verwandelt Mitgefühl in Selbstzweck. Der moralische Wert entsteht dann nicht mehr aus dem, was man tut, sondern daraus, wie überzeugend man sich als Betroffener darstellt.
Diese Verschiebung erklärt, warum Betroffenheit heute zum Statussymbol werden konnte: Sie signalisiert Sensibilität, Zugehörigkeit, moralische Reinheit und ist zugleich weniger riskant als Leistung. Denn wer Opfer ist, kann nicht scheitern.
Fazit
Die neuen Statussymbole sind subtiler, aber nicht harmloser. Sie beruhen auf moralischer Selbstdarstellung statt auf innerer Haltung. Haus, Auto und Kontoauszug sind austauschbar. Empörung, Betroffenheit und Empfindlichkeit nicht.
Vielleicht ist es Zeit, Status neu zu denken: nicht als Abgrenzung, sondern als Ausdruck von Reife.
Wahre Stärke zeigt sich nicht darin, Opfer zu sein oder zu scheinen, sondern darin, Verantwortung zu übernehmen und gerade dort, wo es unbequem wird.
Quellen:
Nietzsche, Friedrich. Zur Genealogie der Moral. Stuttgart: Reclam, 1999. (Erstausgabe 1887)
Bourdieu, Pierre. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982. (Original: La Distinction, 1979)
Han, Byung-Chul. Psychopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt am Main: Fischer, 2014.
© 2025 Anke Schiller. Alle Rechte vorbehalten. www.wort-fee.de
Kommentar hinzufügen
Kommentare