Antonio Gramsci: Denken im Widerstand

Veröffentlicht am 14. Mai 2025 um 16:16
Minimalistisches Kriegs-Piktogramm

„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“ (Antonio Gramsci)

In einer Welt, in der sich politische Diskurse zunehmend radikalisieren, alternative Fakten neben wissenschaftlicher Evidenz bestehen und populistische Bewegungen den öffentlichen Raum dominieren, wirkt Antonio Gramscis Analyse der ‚kulturellen Hegemonie‘ erschreckend aktuell. Seine Schriften, verfasst im Gefängnis des italienischen Faschismus, sind ein Versuch, Macht nicht nur politisch oder ökonomisch zu begreifen – sondern vor allem als geistige Vorherrschaft.

Hegemonie beginnt im Kopf

Für Gramsci ist Herrschaft nicht nur das Ergebnis von Gewalt oder Gesetzen, sondern vor allem ein ‚kultureller Konsens‘, der von den Herrschenden aktiv gestaltet und von den Beherrschten oft unbewusst akzeptiert wird. Wer bestimmt, was „normal“, „vernünftig“ oder „natürlich“ ist, gewinnt den Kampf um die gesellschaftliche Ordnung lange bevor Wahlen stattfinden oder Gesetze geschrieben werden.

Diese ‚kulturelle Hegemonie‘ wirkt in Bildung, Medien, Religion und Alltag – und sie ist deshalb so stabil, weil sie sich nicht als Zwang, sondern als gesunder Menschenverstand präsentiert.

Gramscis Analyse bietet damit ein Frühwarnsystem für all jene Momente, in denen politische Umbrüche nicht nur durch Institutionen, sondern durch Denkgewohnheiten vorbereitet werden. Wer in den USA etwa beobachtet, wie ultrakonservative Narrative in Schulbüchern, Kirchen oder Nachrichtensendern über Jahrzehnte hinweg Raum gewinnen konnten, erkennt, wie Hegemonie ‚gemacht‘ wird – und wie schwer sie zu durchbrechen ist.

Organische Intellektuelle und das Ringen um Deutungshoheit

Ein zentrales Gegenmittel zur kulturellen Hegemonie sieht Gramsci im Konzept des ‚organischen Intellektuellen‘: Menschen, die aus ihrer gesellschaftlichen Klasse heraus sprechen, statt aus akademischer Distanz. Sie beobachten, analysieren und intervenieren.  Nicht in elitären Zirkeln, sondern mitten in sozialen Bewegungen, Gewerkschaften oder Nachbarschaften. Ihre Aufgabe ist nicht Belehrung, sondern Bewusstwerdung.

Gramsci unterscheidet dabei zwischen traditionellen Intellektuellen, oft verankert in der bestehenden Ordnung und organischen Intellektuellen, die das Denken verändern wollen, um reale Verhältnisse zu verändern. Für ihn war Bildung kein Privileg, sondern ein Mittel zur Befreiung.

In heutigen Kontexten finden wir organische Intellektuelle unter Aktivisten, Lehrern, Künstlern oder Journalisten, die es wagen, dominante Narrative zu hinterfragen. Ihre Wirkung entsteht nicht aus Status, sondern aus ‚Verbindung‘ – zur Lebenswelt anderer.

Macht ohne Uniform

Gramscis Machtverständnis ist subtil – und gerade deshalb so wirkmächtig. Die stärkste Form von Herrschaft ist die, die uns unbemerkt begleitet: in unseren Vorstellungen von Erfolg, in unseren Rollenbildern, in den scheinbaren Sachzwängen des Alltags. Er analysiert, wie sich gesellschaftliche Klassen nicht nur durch Besitz unterscheiden, sondern auch durch die Deutungshoheit über Begriffe wie „Leistung“, „Ordnung“ oder „Bildung“.

Dieses Denken hilft, aktuelle Phänomene wie die politische Spaltung in westlichen Demokratien neu zu begreifen: Warum glauben Menschen gegen ihre ökonomischen Interessen an Narrative, die Ungleichheit reproduzieren? Warum bleibt Kritik oft folgenlos, solange sich das Gefühl der Alternativlosigkeit durchsetzt?

Gramscis Antwort: Weil die Schlacht um die Köpfe früher beginnt als jede politische Debatte. Und weil eine bloß ökonomische Analyse nicht reicht – wenn sie die symbolische Ordnung übersieht, in der Menschen ihre Welt verstehen.

Hoffnung im Widerstand

Trotz seiner pessimistischen Diagnose ist Gramsci kein Fatalist. Seine Schriften sind von einem tiefen Glauben an Bildung, Bewusstwerdung und Veränderung durch kollektives Denken geprägt. Für ihn bedeutet politische Arbeit vor allem: neue Perspektiven eröffnen, Erfahrungswelten sichtbar machen, Sprache verändern.

In einer Zeit, in der sich autoritäre Ideen oft als „gesunder Menschenverstand“ tarnen, erinnert Gramsci daran, dass Widerstand im Denken beginnt, aber nicht dort endet. Er ruft dazu auf, sich nicht mit bloßer Kritik zu begnügen, sondern eigene Begriffe, eigene Institutionen und eigene Erzählungen zu entwickeln.

 

Gramsci, A. (1971). Selections from the Prison Notebooks. Edited and translated by Q. Hoare & G. N. Smith. New York: International Publishers.

 

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