Karl Popper und die offene Gesellschaft: Ein Plädoyer für Wachsamkeit

Veröffentlicht am 30. April 2025 um 10:32
Minimalistisches Kriegs-Piktogramm

„Die offene Gesellschaft ist eine, in der Menschen lernen, kritisch zu denken – und mit Unsicherheit zu leben.“  (Karl Popper)

Mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen in den Vereinigten Staaten – die juristische Auseinandersetzung um die demokratische Integrität, der wachsende Einfluss populistischer Rhetorik und die zunehmende Polarisierung zwischen gesellschaftlichen Gruppen, scheint Karl Poppers Warnung aktueller denn je. In seinem Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945) verteidigte Popper das Ideal einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft – nicht aus Optimismus, sondern aus tiefer Sorge um ihre Fragilität.

Die offene Gesellschaft als Experiment

Für Popper ist eine offene Gesellschaft eine, in der Institutionen so gebaut sind, dass sie Kritik zulassen, Minderheiten schützen und Fehler korrigieren können. Sie lebt von der Möglichkeit, dass Menschen ihre Meinungen äußern, ihre Regierung friedlich abwählen und neue Wege einschlagen können – ohne Gewalt, ohne Repression.

Doch genau dieses Ideal steht heute weltweit unter Druck. In den USA etwa geraten demokratische Prinzipien durch systematische Desinformation, Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz und Versuche, Wahlprozesse zu delegitimieren, in Schieflage. Der Rückgriff auf autoritäre, „starke Führer“ scheint für manche wieder attraktiv – oft unter dem Vorwand, die Gesellschaft „vor sich selbst“ zu schützen.

Poppers Feinde der offenen Gesellschaft

Popper identifizierte drei große „Feinde“ der offenen Gesellschaft: Platon, Hegel und Marx. Nicht wegen ihrer philosophischen Tiefe, sondern wegen ihrer geschlossenen Geschichtsbilder. Ihnen gemein war die Vorstellung, dass Geschichte einem Ziel folgt – einer Art historischem Schicksal –, das nur Eingeweihte erkennen können. Wer sich dieser „wahren“ Ordnung widersetzt, wird zum Feind der Wahrheit.

Diese Haltung, so Popper, öffnet die Tür zur Unterdrückung: Wer vorgibt, im Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein, kann jeden Widerspruch delegitimieren. Genau das macht autoritäre Ideologien so gefährlich – sie dulden keinen Zweifel. In heutigen Diskursen erleben wir ähnliche Tendenzen, wenn populistische Bewegungen sich als „Sprachrohr des wahren Volkes“ inszenieren und alle anderen Positionen als „Elite“, „Lüge“ oder gar „Verrat“ diffamieren.

Kritik statt Utopie

Poppers Gegenentwurf ist nicht die perfekte Gesellschaft, sondern die verbesserbare. Er war überzeugt, dass politische Systeme sich nicht dadurch bewähren, dass sie endgültige Lösungen bieten, sondern dadurch, dass sie Fehler erkennen und korrigieren können. Diese Haltung ist unbequem, denn sie fordert Wachsamkeit statt Sicherheit, Offenheit statt Abschottung.

Dabei geht es Popper nicht um Relativismus, sondern um Lernfähigkeit. Demokratie ist für ihn nicht der Ausdruck eines moralischen Sieges, sondern ein pragmatisches Verfahren, um mit der Komplexität menschlichen Zusammenlebens umzugehen.

Relevanz

Was Popper in der Mitte des 20. Jahrhunderts schrieb, wirkt wie ein Kommentar zur Gegenwart. In der globalen politischen Landschaft beobachten wir einen Rückfall in geschlossene Denkformen: Verschwörungserzählungen, Nationalismen, religiöse Dogmen, wirtschaftlicher Absolutismus – sie alle bieten vermeintlich einfache Antworten auf komplexe Fragen.

Auch in der westlichen Welt, wo liberale Demokratien lange als „Endpunkt“ der Entwicklung galten, ist diese Sicherheit ins Wanken geraten. In den USA, wo Popper nach seiner Flucht aus Europa lehrte und schrieb, ist der Glaube an eine offene Gesellschaft längst kein Selbstläufer mehr.

Der Mut zur Offenheit

Was also tun? Poppers Antwort bleibt so einfach wie radikal: Wir müssen lernen, mit Unsicherheit zu leben. Wir müssen aushalten, dass andere Menschen anders denken. Und wir müssen Institutionen schützen, die Dissens ermöglichen – Gerichte, Parlamente, freie Medien.

Poppers Vermächtnis ist kein beruhigender Entwurf, sondern eine Herausforderung: Demokratie ist anstrengend. Freiheit ist brüchig. Und Offenheit ist keine Garantie – sondern eine tägliche Entscheidung.

 

Popper, K. R. (1945). The Open Society and Its Enemies. London: Routledge.

 

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