Achille Mbembe und die Nekropolitik

Veröffentlicht am 18. September 2025 um 20:46

Macht bedeutet nicht nur, Gesetze zu erlassen oder Grenzen zu ziehen. Macht bedeutet im äußersten Fall, über Leben und Tod zu verfügen. Wer entscheidet, wer leben darf und wer sterben muss, hält den Schlüssel zu einer Form von Herrschaft, die Achille Mbembe als Nekropolitik bezeichnet. Mit diesem Begriff hat der kamerunische Philosoph und Historiker den Blick auf eine Dimension der Macht gelenkt, die oft verdrängt oder übersehen wird: ihre tödliche Seite.

Von der Biopolitik zur Nekropolitik

Mbembe (geb. 1957 in Kamerun) knüpft an Michel Foucaults berühmte Analyse der Biopolitik an. Hier beschrieb Foucault, dass sich moderne Macht weniger über spektakuläre Gewaltakte äußert, sondern über subtile Techniken der Regulierung von Leben: Gesundheitswesen, Disziplinierung, Kontrolle von Körpern. Mbembe geht einen Schritt weiter. Er fragt: Was geschieht dort, wo diese Regulierung nicht mehr greift, wo Leben nicht geschützt, sondern ausgelöscht wird? Seine Antwort lautet: Hier wirkt die Nekropolitik.

Die Herrschaft über den Tod

Das zentrale Argument Mbembes lässt sich so zusammenfassen: Moderne Machtformen erschöpfen sich nicht darin, das Leben zu organisieren. Sie umfassen auch die Fähigkeit, den Tod zu verhängen, zu verwalten und zu legitimieren. Diese Fähigkeit zeigt sich nicht nur in klassischen Kriegen, sondern ebenso in kolonialen Herrschaftsverhältnissen, in denen ganze Bevölkerungen entmenschlicht und für rechtlos erklärt werden.

Mbembe unterscheidet dabei verschiedene Räume der Nekropolitik:

  • Kriegszonen, in denen Gewalt zur dauerhaften Lebensbedingung wird.
  • Lager, von Internierungslagern bis zu heutigen Flüchtlingscamps, in denen Menschen entrechtet und in einen Zustand permanenter Vorläufigkeit versetzt werden.
  • Gefängnisse, die nicht nur bestrafen, sondern auch soziale Unsichtbarkeit erzeugen.

Herrschaft erscheint hier nicht in der Gestalt des Gesetzes oder der Institution, sondern als nackte Entscheidung über Sichtbarkeit und Auslöschung. Wer als „Mensch“ gilt und wessen Leben als verzichtbar betrachtet wird, ist selbst Ausdruck von Macht.

Globale Perspektiven auf Macht

Mbembes Überlegungen sind nicht nur historische Diagnose, sondern zugleich Analyse unserer Gegenwart. In einer globalisierten Welt entstehen immer neue Zonen, in denen Menschen faktisch entrechtet werden: an den Außengrenzen Europas, in Bürgerkriegen, in Regionen, in denen wirtschaftliche Interessen Menschenleben abwerten.

Damit verschiebt Mbembe den Fokus von einer eurozentrischen Betrachtung von Macht auf eine globale. Er zeigt, dass koloniale Strukturen nicht verschwunden sind, sondern in neuen Formen fortwirken. Wer von Macht und Herrschaft spricht, muss also auch die Geschichte kolonialer Gewalt und ihre Nachwirkungen im Blick behalten.

Weite und Grenzen des Begriffs

Wie fast jeder einflussreiche Ansatz ist auch Mbembes Theorie nicht unumstritten. Manche Kritiker werfen ihm vor, den Begriff der Nekropolitik sehr weit zu fassen und dadurch unscharf werden zu lassen. Andere befürchten, dass durch den Vergleich unterschiedlicher Gewaltformen, wie etwa Kolonialherrschaft, moderne Kriege und den Holocaust — historische Einzigartigkeiten verwischt werden könnten.

Gleichzeitig gilt gerade diese Weite als Stärke seines Denkens. Sie erlaubt es, Muster und Strukturen sichtbar zu machen, die in sehr verschiedenen Kontexten auftreten. Indem Mbembe die extreme Dimension von Macht — die Verfügung über Leben und Tod — ins Zentrum rückt, legt er einen blinden Fleck der politischen Theorie frei.

Fazit: Die dunkle Seite der Macht

Mbembes Stimme erinnert daran, dass Herrschaft nicht nur Institution, Diskurs oder Struktur ist. Herrschaft kann sich im äußersten Fall in der Frage verdichten: Wer darf leben, und wessen Tod wird hingenommen oder aktiv herbeigeführt? Diese Radikalität macht seinen Ansatz unbequem, aber unverzichtbar.

Mbembe öffnet einen globalen, postkolonialen Horizont. Er fordert uns auf, nicht nur die Mechanismen der Macht in Demokratien oder Institutionen zu betrachten, sondern auch die Orte, an denen Menschen unsichtbar werden: in Lagern, in Kriegen, in den Zwischenräumen der globalen Ordnung. Wer diese Stimmen überhört, versteht Macht nur zur Hälfte.

 

Quellen:

Mbembe, Achille: Necropolitics. Durham/London: Duke University Press, 2019 (ursprünglich 2003 als Essay erschienen).

Mbembe, Achille: Kritik der schwarzen Vernunft. Berlin: Suhrkamp, 2014 (engl. Original Critique of Black Reason, 2017).

 

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