Als Ralph Waldo Emerson 1841 seinen Essay Friendship veröffentlichte, ahnte er wohl nicht, dass ein junger Dichter seine Gedanken Jahrzehnte später in Verse verwandeln würde, die die Idee der Freundschaft weit über das Persönliche hinausheben würden.
Walt Whitman, der „Sänger des Selbst“ und Autor der Leaves of Grass, machte aus der Freundschaft ein gesellschaftliches Ideal, eine poetische Form der Demokratie.
Freundschaft als Gleichklang der Vielen
In Whitmans Welt ist Freundschaft nicht exklusiv, sondern expansiv. Sie umfasst nicht nur einzelne Menschen, sondern das Ganze der Gemeinschaft.
„I do not ask the wounded person how he feels, I myself become the wounded person“, schreibt er. Dieses „Ich werde der Andere“ ist keine sentimentale Geste, sondern die Bereitschaft, sich im Schicksal des Anderen zu erkennen.
Whitmans Freundschaftsideal ist radikal inklusiv.
Es kennt keine Schranken von Stand, Herkunft oder Geschlecht: sie ist demokratisch im tiefsten Sinn des Wortes. Nicht Gleichheit durch Angleichung, sondern Gleichheit durch Anerkennung.
So wird Freundschaft bei ihm zu einem poetischen Prinzip: Sie schafft Nähe, wo Trennung herrscht, und Gemeinschaft, wo Einsamkeit droht.
Die Seele als Resonanzraum der Demokratie
Whitmans Dichtung ist durchzogen von einem paradoxen Spannungsverhältnis: unerschütterliches Selbstbewusstsein und grenzenlose Offenheit.
„I celebrate myself, and sing myself,“ beginnt der Song of Myself und schon im nächsten Vers heißt es: „For every atom belonging to me as good belongs to you.“
Das Ich, das sich hier feiert, ist nicht egoistisch, sondern durchlässig.
In dieser Durchlässigkeit liegt sein Verständnis von Freundschaft. Der Freund ist kein Gegenüber, sondern ein Mitschwingender, Teil eines größeren Atems.
Whitman spricht von adhesive love: einer klebenden, verbindenden Liebe, die über persönliche Beziehungen hinausgeht und zu einem sozialen Bindemittel wird. Damit überführt er Emersons Ideal der geistigen Freundschaft in eine politische Sprache: Freundschaft als Modell der Demokratie, als Erfahrung gegenseitiger Durchdringung von Ich und Wir.
Der Poet als Freund der Welt
Whitmans Freundschaftsbegriff ist zutiefst performativ. Er lebt nicht von Definition, sondern von Ausdruck. Indem er I sagt, spricht er das We mit. Der Einzelne wird zum Sprachrohr des Ganzen.
In Gedichten wie Song of the Open Road oder Calamus wird Freundschaft zur Haltung des Vertrauens: das offene Zugehen auf den Anderen, das Teilen der Welt ohne Besitzanspruch.
„I will be your poet, I will be more to you than to any of the rest,“ heißt es. Und in diesem Vers klingt die Utopie einer Welt an, in der Nähe nicht durch Gleichförmigkeit entsteht, sondern durch Resonanz.
Whitmans „freundschaftliche Demokratie“ ist kein System, sondern ein Bewusstseinszustand: Sie lebt von der poetischen Geste des Mitfühlens, vom Vertrauen in die gemeinsame Menschlichkeit.
Freundschaft als gesellschaftliche Energie
Im Rückblick bildet Whitman den dritten Pol in der Entwicklung eines uralten Gedankens: Was bei Cicero moralische Ordnung war, wird bei Emerson geistige Freiheit und bei Whitman zu sozialer Energie. Seine Freundschaft ist nicht die Bindung weniger, sondern die Bewegung vieler. Sie schafft ein Wir, das nicht durch Verträge, sondern durch Sprache gestiftet wird.
Whitmans Poetik des Miteinanders ist zugleich eine Ethik: Eine Einladung, das Leben in Beziehung zu begreifen, als offenes Gespräch, das niemals endet.
Nachklang
„I am large, I contain multitudes.“
Dieser berühmte Satz aus Song of Myself könnte auch als Credo seiner Freundschaft verstanden werden. Whitman sieht im Menschen ein offenes System von Beziehungen: immer im Werden, immer im Austausch.
Freundschaft, in diesem Sinn, ist für ihn die poetische Form des Lebens selbst, eine Bewegung zwischen Freiheit und Zugehörigkeit, zwischen Ich und Welt, zwischen Atem und Wort.
Quelle:
Whitman, Walt. Grasblätter. Übersetzt von Hans Reisiger. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1982.
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