Freundschaft ist eines jener Worte, die in der Alltagsverwendung beinahe unscheinbar wirken – und doch auf ein Geflecht moralischer, sozialer und politischer Bedeutungen verweisen. Schon Marcus Tullius Cicero, der römische Staatsmann, Philosoph und Redner, widmete ihr einen ganzen Dialog: Laelius de amicitia: „Über die Freundschaft“. Was als persönliche Erinnerung an seinen verstorbenen Freund Scipio Aemilianus beginnt, wird zu einer Reflexion über das Wesen menschlicher Bindung als eine der wichtigsten Voraussetzungen einer funktionierenden Gemeinschaft.
Freundschaft als republikanische Tugend
Für Cicero war Freundschaft keine private Angelegenheit, sondern eine Frage der öffentlichen Moral. Sie gehörte in den Bereich der virtus, jener sittlichen Haltung, die das Gemeinwesen zusammenhält. Freundschaft, so schreibt er, könne nur zwischen Guten bestehen, also nur zwischen jenen, die von Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Pflichtgefühl geleitet seien.
„Nichts ist schwerer zu finden als einen treuen Freund, nichts kostbarer zu behalten.“ Der Satz, der so schlicht klingt, ist in Wahrheit eine republikanische Maxime: Freundschaft ist das Band, das die Freiheit schützt, weil sie auf Vertrauen statt auf Zwang beruht.
In einer Welt politischer Intrigen und wechselnder Loyalitäten – Cicero schrieb in der Endphase der Römischen Republik – war Freundschaft ein moralischer Prüfstein. Sie erlaubte, das Verhältnis zwischen persönlicher Bindung und öffentlicher Verantwortung auszuloten. Wahre Freundschaft widerspricht dem Opportunismus: Sie ist nicht Mittel zum Zweck, sondern Ausdruck gemeinsamer Gesinnung.
Zwischen Nutzen, Vergnügen und Tugend
Cicero unterscheidet, ähnlich wie Aristoteles, aber mit eigener Gewichtung, drei Formen der Freundschaft: jene aus Nutzen, jene aus Vergnügen und jene aus Tugend.
Nur letztere verdient den Namen wirklich: „Denn nichts ist liebenswürdiger als Tugend; und wer sie in einem anderen erkennt, liebt sie selbst.“
Damit erhebt Cicero Freundschaft zu einer moralischen Schule. Sie ist kein Zufallsprodukt des Gefühls, sondern ein Raum der wechselseitigen Prüfung. Der Freund ist Spiegel und Maßstab: Jemand, vor dem man nicht heucheln kann, weil die Beziehung auf Wahrhaftigkeit gegründet ist.
Freundschaft ist in diesem Sinn eine Übung in Integrität. Sie fordert Aufrichtigkeit, Loyalität und Maß. Nicht das dauernde Einverständnis zählt, sondern das gemeinsame Streben nach dem Guten.
Vertrauen als Fundament des Gemeinwesens
Hinter Ciceros Gedanken steht ein gesellschaftlicher Entwurf: Die Republik lebt vom Vertrauen ihrer Bürger zueinander.
Fides, jenes schwer zu übersetzende Wort, das sowohl Treue wie Glaubwürdigkeit meint, ist ihr unsichtbares Fundament.
Ohne Vertrauen, so Cicero, zerfällt die Ordnung in bloßes Kalkül. Und das gilt im Kleinen wie im Großen.
Freundschaft ist in dieser Perspektive keine Flucht aus der Politik, sondern ihre moralische Voraussetzung. Sie lehrt, Verantwortung zu übernehmen, Maß zu halten und dem Anderen gerecht zu werden. Wer Freundschaft übt, lernt das Wesen der Freiheit: dass sie nur dort gedeiht, wo Vertrauen herrscht.
Von der res publica zur inneren Republik
Betrachtet man Ciceros Gedanken aus heutiger Sicht, so wirken sie zugleich fremd und erstaunlich gegenwärtig. Fremd, weil sie Tugend als gesellschaftlichen Ordnungsfaktor begreifen. Etwas, das in modernen Demokratien oft in die Privatsphäre verdrängt wurde. Gegenwärtig, weil die Sehnsucht nach Verlässlichkeit, nach echtem Vertrauen inmitten flüchtiger Beziehungen, aktueller kaum sein könnte.
Von Cicero führt eine gedankliche Linie weiter: Zu Montaigne und La Boétie, zu Emerson und Whitman. Sie alle transformieren den Begriff der Freundschaft: aus einer republikanischen Tugend wird eine spirituelle Haltung.
Was bei Cicero noch in der res publica wurzelt, wandert später nach innen: In das Herz des Individuums, das sich selbst im Anderen erkennt.
Doch der Ursprung bleibt derselbe: Freundschaft als Schule des aufrechten Umgangs mit der Welt.
Ciceros Lehre erinnert daran, dass die Freiheit des Einzelnen immer auch eine Sache der Freundschaft ist, jener stillen Übereinkunft, auf der jede Gemeinschaft, ob antik oder modern, letztlich beruht.
Quelle:
Cicero, Marcus Tullius. Laelius oder über die Freundschaft. Übersetzt und herausgegeben von Olof Gigon. Stuttgart: Reclam, 1993.
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